Lieber Onkel,
dein neuester Bericht war leider zu befürchten.
Besonders besorgt mich die berufliche Entwicklung im Zusammenhang mit seinem Zuzug und der weit entfernten Wohnung.
Was sind denn das für Vermieter? Die müssten ja Wasif kennen, wenn sie ihm seine Kinder anvertrauen wollen. Anders ist das für mich unvorstellbar. Ich hoffe, dass sich das Angebot zerschlägt.
Wahrscheinlich weiß deine Nichte leider noch nicht, was ein Umzug bedeutet. Zum einen die Kosten, selbst wenn keine Kaltmiete erhoben wird, zum anderen aber auch die Zeit, die immer in eine neue Wohnung investiert werden muss.
Ich sehe sie schon die Kinder hüten anstatt zu lernen. Das alles kurz vorm ersten Abschluss. Ich würde als Angehörige wahnsinnig werden.
Ich rate dir, gemeinsam mit Linda und ihrer Mutter genau schriftlich aufzulisten, was der Umzug bedeutet:
- Zeit I (Einrichten, Sauberhalten, Kinderbetreuung, eigener Haushalt)
- Zeit II (Prüfungsvorbereitung: Muss sie zur Bibliothek/Uni pendeln? Kommt Wasif mit ihrer eigenen Zeiteinteilung klar, indem er seine Bedürfnisse zurück nimmt? Ist die neue Wohnung ein guter Ort zum Lernen? Stichwort: Lernatmosphäre, dazu schreib ich gleich noch mal etwas)
- Zeit III (Behördengänge und Papierkram)
- Kosten I (jede einzelne Position neuer Einmalanschaffungen, samt der Vorstellung, wie das zu finanzieren ist)
- Kosten II (jede einzelne Position laufender Kosten wie Strom, Internet, Versicherungen, Lebensunterhalt in Form von Nahrung und Hygiene, Kleidung)
- Sonstiges
Vielleicht hilft es ihr, diese Zahlen zu sehen. Wasif wird sich ja erst mal einleben müssen

und kann daher rein gar nichts dazu beitragen, hat dafür aber umso mehr Ansprüche an sie. Ich hoffe, sie sieht das realistisch ein.
Dann darüber sprechen, wie das alles finanziert und bewältigt werden soll WÄHREND der heißen Prüfungsphase.
Wenn sich Linda vorstellt, dass es am Ende gut passieren kann, dass sie die letzten Jahren an der Uni alles umsonst geleistet hätte, sollte sie den Fokus jetzt nicht aufs Examen legen, hilft ihr das vielleicht: Umsonst aufgestanden, umsonst in den Veranstaltungen gesessen, umsonst Studien- und Prüfungsleistungen erbracht.
Sie hat das Staatsexamen wegen Wasif einmal nicht bestanden. Das Leben mit ihm in Deutschland wird nicht weniger anstrengend als nächtliche Telefonate.
Zu seine Psycho-Methoden wurde schon vieles gesagt. Deshalb lasse ich das mal aus. Alles klassisch.
Zum Lernen: ich habe meinen Mann mehr als einmal in ein Hotel eingebucht, obwohl wir seit jeher getrennte Schlafzimmer haben. Allein die Frage, ob er mir einen Tee machen soll oder eine Wärmflasche, oder das Hinstellen eines Obsttellers hat mich in hochkonzentrierten Momenten aus dem Fluss gebracht. Sich gegenseitig weniger beachten, hat in solchen Phasen auch immer einen blöden Beigeschmack gehabt, worüber ich dann nachdenken musste, was mich wieder abgelenkt hat. Das ist natürlich nur ein Extrembeispiel. Ich hatte auch wirklich krasse Deadlines und war extrem unter Druck.
Es zeigt aber, dass Linda eben nicht so für sich sorgen kann, wie sie es müsste. Sonst hätte sie die Ablenkungen unterbunden und so mehr Ressourcen gehabt.
Wenn er erstmal neben ihr ist, wird das ja noch schwieriger.
Wenn Wasif wirklich nur Gutes für seine Frau will (wie jeder Mann), dann lässt er sich bis nach den Prüfungen ihren Raum und startet den Zuzug erst danach. Er macht aber genau das Gegenteil.
Sollte sie das Examen unter diesen Umständen bestehen, dann noch das Referendariat (dauerhafte Prüfungssituation), dann kann sie vor jeder Klasse dieses Landes stehen und wird das händeln können. Mir fehlt zwar der Glaube, aber ich wünsche es ihr.
Es ist bewundernswert, wie du dich für deine Nichte einsetzt und nicht aufgibst.