Scharade hat geschrieben:
Dieser mein "guter Freund" hat sich wie ein Vater um mein Kind gekümmert und ich wollte meiner Tochter eine männliche Bezugsperson sein, ich fand das gut, da ich mich seinerzeit von meinem Partner getrennt hatte. Dass er ihr zu nahe getreten war, immer ein wenig mehr, habe ich intuitiv herausgefunden - ich bin mal mit einer Freundin für ein Wochenende nach Venedig gefahren und er wollte in dieser Zeit in der Wohnung und in der Anwesenheit seiner Mutter auf das Kind aufpassen.
Bei meiner Rückkehr hat sie mir erzählt, dass er von ihr Fotos gemacht habe, aber nur unter der Decke und der Blitz ging auch nicht. .... das war ein Hilferuf, den ich nicht sofort wahrgenommen habe.....
Mir missfiel in dieser Zeit auch, dass sie ständig auf seinem Schoß saß und so hin- und herwubbelte. Ich sprach den Mann an und er hat das sehr verharmlost. Im Leben wäre ich nicht darauf gekommen, was Sache war, aber irgendwie fühlte ich mich unwohl und habe ihm untersagt, das Kind weiterhin auf den Schoß zu nehmen, man könne das "Falsche" denken und das wolle ich nicht. Mein Kind schaute mich erleichtert an - und da ENDLICH fiel der Groschen!!!!
Ich habe ihn direkt angesprochen und gefragt, ob ich mir Gedanken machen müsste und ob er mein Vertrauen missbraucht habe! Er hat sich sehr empört davon distanziert und Stein und Bein geschworen, er würde dem Kind niemals etwas antun.
Dann hat er sich demonstrativ beleidigt vom Acker gemacht. Das war sein ultimativ letzter Besuch bei mir.
Ich habe versucht, sehr behutsam auf mein Kind einzugehen und sehr vorsichtig gefragt, was passiert sei. Als Ergebnis sagen wir mal so: Es kann sich niemand vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn ein kleines Mädchen innerlich und äusserlich zusammenbricht und alles aus ihr - endlich - heraussprudelt, was vorher verschwiegen werden musste. Wir haben dann bei der Polizei nach einer geschulten weiblichen Person gefragt, die das Verhör machen wollte, meine Tochter hat aber nur in meiner Anwesenheit geredet.
Es ist zu einer Gerichtsverhandlung gekommen, in der der Täter zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde - der Richter hatte mich ausdrücklich als Zeugen ausgeladen, weil ich so außer mir vor Zorn war, dass ich ohne an Verluste zu denken, auf diesen Menschen losgegangen wäre. Ich weiß, dass er sich nicht gewehrt hätte - er hatte in dieser Beziehung einen Heidenrespekt vor mir. Anschließend habe ich in seinem Freundeskreis und in der gesamten Nachbarschaft von seinem Tun berichtet und als Folge wurde er geächtet.
In den folgenden Jahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Tochter über das Thema nicht mehr gesprochen hat. Ich habe in der Zukunft sehr auf sie geachtet, sie war eine so Süße, dass sie manchmal - wenn sie von der Schule kam - von irgendwelchen Männern sogar bis ins Haus und an den Fahrstuhl verfolgt wurde. Daraufhin habe ich dafür gesorgt, dass sie Judo lernte und die Geschäfte in der unmittelbaren Umgebung meiner Wohnung waren informiert und haben immer ein Auge auf sie gehabt und sie hat diese Läden - wenn sie sich in Not befunden hätte - auch jederzeit betreten können und wäre beschützt worden. Ein lautes hartes NEIN und eine Taktik, sich wehren zu können, habe ich ihr mitgeben können.
Der grosse Knall kam, als meine Tochter ca. 12 Jahre alt war. Das so lange Verschwiegene fing an, sie zu quälen und sie hat in allen Einzelheiten darüber gesprochen. Sie hat auf dem Boden gesessen und mit den Fäusten auf den Boden getrommelt, geschrien vor Wut und geschimpft in Worten, die ich noch nie gehört hatte. Ich habe mitgemacht. Meine Wut war genauso groß und wir haben gemeinsam unseren Zorn rausgelassen. Sie fühlte sich gut aufgehoben in dieser Zeit und unser Vertrauen war enorm.
In dieser Zeit habe ich den Täter nach vielen Jahren noch einmal angerufen und zur Rede gestellt. Ich hätte ihm genug angetan und total ausgegrenzt. Außerdem wäre es meine eigene Schuld gewesen. Daraufhin habe ich ihn verflucht. 2 Jahre später habe ich von seiner Mutter erfahren, dass er Krebs bekommen hätte und gestorben wäre. Danach war meine Tochter wie befreit und wollte zur letzten Aufarbeitung zu einer Beratungsstelle gehen, die sich mit missbrauchten Kindern befasst. Dort ist sie aber nur zweimal gewesen und hat anschließend nur noch mit mir gesprochen, weil sie aus ihrer Sicht die Frauen dort für unqualifiziert und uninteressiert hielt. "Die sind alle nur doof"
Ich habe in dieser Zeit niemals ein schlechtes Gewissen gehabt und ich habe meiner Tochter - da ich alleinerziehend war - auch nicht alles erlaubt, was sie wollte, sondern ich war MAPA (Mama - Papa) und habe ihr konsequent Grenzen gesetzt, an die sich sich zu halten hatte. Das hat bei ihr ein tiefes Vertrauen hervorgerufen und alles wurde wieder gut.
Bei meinem Sohn - er ist 11 Jahre jünger als meine Tochter - waren diese "Urinstinkte" von vornherein vorhanden, uns hatte sich ein Päderast genähert und meine Sinne waren dermaßen geschärft, dass ich ihn entlarven und hinauswerfen konnte, bevor er sich an meinen Sohn vergreifen konnte.
Kinder sagen nicht, was ihnen fehlt - und wenn sie zum Schweigen verdonnert werden, ist dies eine besonders grosse Belastung. Man muss unglaublich genau hinhören, wenn ein Kind etwas sagt. Hilferufe sind so schwer erkennbar. Und Kinder lügen, wenn sie jemanden - z. B. die Mutter - schützen wollen.
Bitte liebe Brucefan, höre Deinem Sohn sehr genau zu, es wird eine Zeit kommen, in der alles auf ihm herausbricht. Man kann das ein wenig unterstützen und das Kind im passenden Moment ermutigen. Wenn das Vertrauen gross ist, wird er sich von Dir helfen lassen - es wäre so schade, wenn ein kleiner Kerl sich ein wenig gutes Ventil sucht und in seelische Not gerät. Sei stark für ihn und setze ihm konsequente Grenzen, damit er sich darin sicher fühlen kann.
Wie ich mit dem Täter umgehen würde, ist klar. Die Polizei und eine Anzeige wären der erste Weg - und dann vor Gericht und bestrafen lassen.
Wer ganz wichtig ist, ist Dein Sohn. Welche Seelenqual macht der kleine Kerl zur Zeit durch und vielleicht kannst du Dir vorstellen, dass er nicht darüber reden kann, weil er DICH schützen möchte vor den Schmerzen. Aber geteilter Schmerz ist vielleicht in diesem Fall halber Schmerz - vielleicht will Dein Sohn gerne reden und Dich als stark erleben - vielleicht ist der Therapeut in seinen Augen nicht die passende Person, etwas so Privates herauszulassen.
In späteren Jahren habe ich oft mit Menschen zu tun gehabt, die sexuelle Gewalt erleben mussten - solche Erfahrungen lösen sich nicht auf - je mehr sie verschwiegen werden, umso heftiger suchen sie sich in späteren Jahren Raum. Und dann ist die Seele zerstört. Vielleicht kannst Du noch helfen?
Ganz liebe Grüße
Scharade
Hallo Scharade,
gottseidank war ich noch nie in dieser Situation und kenne bislang auch noch niemanden, dem oder dessen Kindern so etwas wiederfahren wäre. Aber wenn ich mal in die Verlegenheit kommen sollte, dann werde ich Dein Post zeigen! Denn ich finde es absolut klasse, wie ihr zwei das bewältigt habt.

Nun seid ihr offenbar sozial sehr gut vernetzt, so daß Du viele Leute vor ihm warnen konntest und effektiven Schutz für Deine Tochter organisieren konntest. Das ist nicht bei vielen Müttern so, ja, die Täter suchen bestimmt gezielt nach Frauen, die eben nicht so viel Unterstützung erwarten können, so daß sie leichtes Spiel haben. Und Du selbst warst auch nicht so schnell einzuschüchtern bzw. er konnte Dich nicht seelisch abhängig machen, wie das leider bei vielen Müttern mißbrauchter Kinder der Fall ist, die dann wegsehen, wo man nicht wegsehen darf.
Was Du über die Beratungsstelle schreibst, so kommt mir das auch bekannt vor.

Zwischen gut und gut gemeint - helfen wollen und helfen können besteht eben leider oft ein himmelweiter Unterschied.
Ich bin auch froh, daß es Deiner Tochter besser geht, sie es verarbeiten konnte und darüber hinweg ist. Und ich hoffe für Brucefans Sohn, daß er es auch schaffen möge.
Ganz herzliche Grüße
Steckchen
Die Liebe vernachlässigt diejenigen am meisten, die ihrer am meisten bedürfen.
(Madame de Rosemonde im Film: Gefährliche Liebschaften (Regie: Stephen Frears) 1988